Donnerstag, 1. Mai, 20 Uhr, Neustädter Hof- und
Stadtkirche St. Johannis, Rote Reihe 8
Johann Sebastian Bach: KUNST DER FUGE
An der Orgel: Wolfgang Kleber
Der
„Kontrapunkt“, das musikalische Prinzip, nach welchem die Mehrstimmigkeit in
der europäischen Musikgeschichte entwickelt wurde, gelangt in Johann Sebastian
Bachs „Kunst der Fuge“ zu unerhörter Vollkommenheit. Mehrere eigenständige
Stimmen bewegen sich in großer Freiheit und zugleich in wunderbarer Harmonie.
Zu jeder Zeit hat jede der beteiligten Stimmen etwas zum musikalischen
„Gespräch“ beizutragen. Dahinter verbirgt sich ein hochkomplizierter,
mehrschichtiger Bauplan voller symmetrischer Proportionen.
Das
zentrale Stück, auf das sich alle anderen Teilkompositionen des Zyklus
beziehen, ist die „Fuga a 3 Soggetti“ (ital. „Fuga mit 3 Themen“), die mit dem
ihr folgenden Choral „Wenn wir in höchsten Nöten“ am Ende des Originaldruckes
von 1751 steht. Im ersten und längsten Teil dieser Fuga erklingt eine feierlich
dahinströmende Musik, die in ihrer Sanglichkeit an Palestrina erinnert – auch
zu Bachs Zeit „Sakralmusik“ schlechthin. Sein Fugenthema besteht aus sieben
Tönen in spiegelbildlicher Abfolge. Der zweite Teil der „Fuga a 3 Soggetti“ hat
ein eher rasch in Achteln fließendes Thema. Das Thema das dritten Teils beginnt
mit den Tönen b – a – c – h. Diese musikalische Kreuz-Figur wird durch den
folgenden Aufstieg zum Grundton d auf zehn Töne ergänzt.
Das
lateinische Wort „Fuga“ = „Flucht“ besagt, dass die Stimmen einander nachjagen,
zu einem Ziel hinfliehen. Tatsächlich fliehen die vier Stimmen letztlich über
den letzten Takt hinaus zum Choral. Es liegt nahe, an den Psalmvers „Herr, auf
dich traue ich, …. Ein Hort, dahin ich immer fliehen möge“ (Psalm 71) zu
denken.
Die
drei Themen erklingen am Ende der Fuga gleichzeitig. Dazu könnte als weiterer
Kontrapunkt dasjenige Thema gespielt werden, welches die Grundlage zu allen
anderen Teilkompositionen der Kunst der Fuge bildet. Es wird meist „Hauptthema“
genannt. Diesen Kontrapunkt zu den drei Themen der Fuga hat Bach nicht in die
Fuga selbst eingearbeitet, sondern in weit überhöhter Gestalt zu selbständigen
weiteren Einzelkompositionen ausgearbeitet. Daher heißen diese Fugen und Kanons
im Originaldruck nicht „Fuge“, sondern „Contrapunctus“ bzw. tragen in ihrem
Titel den Zusatz „in contrapunto“. All diese „Contrapuncte“ können proportional
den drei Teilen der Fuga zugeordnet werden. Zusammengefasst zu Gruppen aus je
drei bzw. drei mal drei Stücken verhält sich deren Anzahl von Takten zur
Taktzahl der Fugenteile exakt so wie der Umfang eines Kreises zu seinem Radius.
Das
„Hauptthema“ der „Kunst der Fuge“, also der Kontrapunkt zu den Themen der Fuga
a 3 Soggetti, besteht in seiner Urgestalt aus dem d-moll Dreiklang und einer
melodischen Auf- und Abwärtslinie.
Es
wird in den verschiedenen Stücken rhythmisch und melodisch variiert, bleibt
aber in allen Contrapuncten und auch in den Kanons erhalten. Besonders
ungewöhnlich ist seine Gestalt in den beiden Tripelfugen (Contrapunctus 8 und
11). Dort erklingt es unterteilt in vier kleine Gruppen, die jeweils mit einer
Pause beginnen:
Diese
Gestalt halte ich für eine Anspielung auf das Motto, das Leibniz auf einem von
ihm entworfenen Kupferstich einer Darstellung seines dualen Zahlensystems
voranstellt: „omnibus ex nihilo ducendis sufficit unum“ („um alles aus dem
Nichts herzuleiten genügt Eines“). Die außergewöhnliche Form der Ziffer 1 auf
diesem Kupferstich hat Bach in der Überschrift des Contrapunctus 11 übernommen.
Darin sehe ich einen von zahlreichen Hinweisen darauf, dass die „Kunst der
Fuge“ nur vor dem Hintergrund der zu Bachs Zeit hochaktuellen Diskussion
zwischen Theologie und Philosophie/Mathematik zu verstehen ist.
Die
Contrapuncte umkreisen die Fuga a 3 Soggetti spiralförmig auf das Ziel zu,
welches jedoch nicht erreicht wird, - ebenso, wie Theologie, Philosophie und
Wissenschaften die absolute Wahrheit, die Ewigkeit nicht erreichen können. Die
Musik mündet stattdessen in den Choral. Diese Deutung der scheinbar
unvollendeten „Kunst der Fuge“ sehe ich bestätigt unter anderem im Ornament am
Ende von Contrapunctus 3 im Originaldruck von 1751.
Programmfolge
Contrapunctus 1
Das Hauptthema wird vorgestellt und wandert durch die
vier Stimmen.
Contrapunctus
2
Der punktierte, quasi swingende Rhythmus drängt nach
vorne.
Contrapunctus
3
Das Hauptthema wird gespiegelt, d. h. Oben und Unten werden
umgekehrt. Die mittleren Themeneinsätze lassen die erste Zeile des Chorals
„Wenn wir in höchsten Nöten“ erahnen.
Contrapunctus
4
Das gespiegelte Hauptthema wandert in dieser fast
verspielt wirkenden Fuge durch ungewöhnliche Modulationen.
Contrapunctus
5
Das Hauptthema erklingt sowohl in der originalen Stellung
als auch gespiegelt. Und es wird durch Durchgangsnoten erweitert.
Contrapunctus
6
„In Stylo francese“ – im Stil einer Französischen
Ouverture; Das Thema erklingt wie in Contrapunctus 5, jedoch zusätzlich im
doppelten Tempo.
Contrapunctus
7
Das Thema wie in Contrapunctus 5 erklingt in drei
verschiedenen Geschwindigkeiten.
Contrapunctus
8
Dreistimmige Fuge mit drei Themen, von welchen eines die
mit Pausen durchsetzte Umgestaltung des Hauptthemas ist. Die drei Themen werden
nacheinander vorgestellt und miteinander kombiniert.
Contrapunctus
9
Dem nach einem Oktavsprung in Achteln laufenden
Eigenthema dieser Doppelfuge wird wie ein Cantus firmus das Hauptthema in
langen Notenwerten gegenüber gestellt.
Contrapunctus
10
Das Eigenthema dieser zweiten Doppelfuge besteht aus einem
kleinen Motiv, das aus dem ersten Eigenthema von Contrapunctus 8 stammt und nun
spiegelsymmetrisch wiederholt wird, woran sich ein Achtellauf anschließt. Dazu
erklingt das Hauptthema in der mit Durchgangsnoten erweiterten Gestalt, - wie
in Contrapunctus 5, 6 und 7.
Contrapunctus
11
Vierstimmige Fuge mit den selben Themen wie Contrapunctus
8, hier jedoch mit gravitätischem und hochdramatischem Ausdruck.
Contrapunctus
12
Vierstimmiges Spiegelfugenpaar. Nach dem ersten
Durchspielen wird genau dieselbe Fuge wiederholt, wobei in allen Stimmen Oben
und Unten vertauscht werden.
Contrapunctus
13
Dreistimmiges Spiegelfugenpaar.
Canon
„per Augmentationem in Contrario Motu“: Die zweite
Kanonstimme setzt mit doppelten Notenwerten, also im halben Tempo ein und
vertauscht Oben und Unten.
Canon
„alla Ottava“: Zwei Kanonstimmen laufen im Abstand einer
Oktave hintereinander her.
Canon
„alla Decima Contrapunto alla Terza“: In diesem Kanon ist
das Hauptthema der Kunst der Fuge nicht zu überhören. Der Kanon endet mit einer
zu improvisierenden „Cadenza“.
Canon
„alla Duodecima in Contrapunto alla Quinta“: Lebhafte
Sextolen und normale Achtel sind in stetem Wechsel.
Fuga a 3 Soggetti
Diese große dreiteilige Fuge bildet mit dem Choral „Wenn
wir in höchsten Nöten“ das ideelle Zentrum der Kunst der Fuge. Dem feierlichen
ersten Teil der „Fuga a 3 Soggetti“ folgt der zweite Teil mit einem in Achteln
dahineilenden Thema. Schließlich erklingt im dritten Teil der Name des
Komponisten. Die Töne b-a-c-h stellen ein musikalisches Kreuzsymbol dar.
Am Ende erklingen die drei Themen gleichzeitig, bevor die
Fuga a 3 Soggetti – scheinbar unvollendet – abbricht.
Das lateinische Wort „Fuga“ = „Flucht“ besagt, dass die
Stimmen einander nachjagen, zu einem Ziel hinfliehen. Und tatsächlich fliehen
in der Fuga a 3 Soggetti die vier Stimmen quasi über den letzten Takt hinaus
zum Choral.
Zu den drei Themen der Fuga a 3 Soggetti könnte als
vierter Kontrapunkt dasjenige Thema gespielt werden, welches die Grundlage zu
allen anderen Teilkompositionen der Kunst der Fuge bildet. Es wird meist
„Hauptthema“ genannt. Diesen vierten Kontrapunkt hat Bach allerdings nicht der
Fuga a 3 Soggetti hinzugefügt, sondern in weit überhöhter Gestalt zu
selbständigen weiteren Einzelkompositionen ausgearbeitet. Daher heißen diese
Fugen und Kanons im Originaldruck nicht „Fuge“, sondern „Contrapunctus“ bzw.
tragen in ihrem Titel den Zusatz „in contrapunto“. All diese „Contrapuncti“
können proportional den drei Teilen der „Fuga“ zugeordnet werden. Nach klaren
Kriterien zusammengefasst zu Gruppen aus je drei bzw. drei mal drei Stücken
verhält sich deren Anzahl von Takten zur Taktzahl der Fugenteile exakt so wie
der Umfang eines Kreises zu seinem Radius. Gewissermaßen paraphrasieren die
Contrapuncti die Fuga in immer kleineren Kreisen, bis die Musik in den Choral
mündet.
Wolfgang Kleber, 2025
Choral
Wenn wir in höchsten Nöten sein und wissen nicht, wo aus
noch ein,
und finden weder Hilf noch Rat, ob wir gleich sorgen früh
und spat,
so ist dies unser Trost allein, dass wir zusammen
insgemein
dich anrufen, o treuer Gott, um Rettung aus der Angst und
Not,
und heben unser Aug und Herz zu dir in wahrer Reu und
Schmerz
und flehen um Begnadigung und aller Strafen Linderung,
die du verheißest gnädiglich allen, die darum bitten dich
im Namen deins Sohns Jesu Christ, der unser Heil und
Fürsprech ist.
Drum kommen wir, o Herre Gott, und klagen dir all unsre
Not,
weil wir jetzt stehn verlassen gar in großer Trübsal und
Gefahr.
Sieh nicht an unsre Sünde groß, sprich uns davon aus
Gnaden los,
steh uns in unserm Elend bei, mach uns von allen Plagen
frei,
auf dass von Herzen können wir nachmals mit Freuden
danken dir,
gehorsam sein nach deinem Wort, dich allzeit preisen hier
und dort.
Text: Paul Eber (1566), Melodie: Guillaume Franc
(1543), Johann Baptista Serranus (1567)
Wolfgang Kleber, geboren 1958 in Idstein/Taunus,
studierte Kirchenmusik und Orgelsolo an der Hochschule für Musik und
Darstellende Kunst in Frankfurt am Main. Dort waren seine wichtigsten Lehrer
Edgar Krapp, Hans Ulrich Engelmann und Helmuth Rilling. Von 1981 bis 1985 war
Kleber Kirchenmusiker an der Wiesbadener Kreuzkirche, von 1985 bis 2022 an der
Darmstädter Pauluskirche. Mit Bachs „Kunst der Fuge“ befasst er sich seit vier
Jahrzehnten sowohl als Interpret als auch wissenschaftlich.
Eine Doppel-CD mit dem Live-Mitschnitt der Aufführung vom
21.8.2024 in der Pauluskirche Darmstadt ist nach dem Konzert auf der
Orgelempore erhältlich (Preis: 25,- €).
Die
Thomas-Orgel der Neustädter Hof- und Stadtkirche
Link zu ausführlichen Erläuterungen: https://kunstderfuge.wolfgangkleber.de/KdF_geplantes_Fragment_Version_6.pdf
Orgelkonzerte: 1.Mai
2025 beim Deutschen Evangelischen Kirchentag Hannover // 23.November
2025 beim Bachfest München